Oberhausen im Ruhrgebiet – Die Geschichte einer außergewöhnlichen Ruhrstadt

Zum 100. Geburtstag der ersten politischen Vertretung des Ruhrgebiets

Von Dr. Magnus Dellwig

Im Jahr 1920 wird Groß-Berlin gebildet. Die Metropolregion an der Spree mit fast 4 Millionen Einwohnern rückt damit in die erste Liga der europäischen Zentren auf. Das Ruhrgebiet und der Staat Preußen nehmen das als Anstoß und fassen auch das Ruhrgebiet erstmals in seiner Geschichte verwaltungsmäßig zusammen: 1920 entsteht der SVR – der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk. Er ist mit fast 6 Millionen Einwohnern Europas größte Industrieregion. Seine Kommunen erkannten damals, dass so elementare Aufgaben wie Verkehr, Wohnen, Grünflächen, Stadtplanung nicht mehr in den Griff zu bekommen wären, falls nicht interkommunal zusammengearbeitet werde.

So kleidete sich ein Oberhausener Pärchen zum Flanieren auf der Marktstraße nach 1920, Ausstellungsansicht, 2020 © LUDWIGGALERIE Schloss Oberhausen

Was ist in Oberhausen anders als im Rest des Ruhrgebiets? – Eine Stadt entsteht ohne vorindustrielle Wurzeln!

Blicken wir heute auf das Ruhrgebiet, herrscht die weit verbreitete Meinung: Die Städte der Region sind sich sehr ähnlich, haben eine weitgehend gleiche Prägung durch die Epoche von Kohle und Stahl erlebt. Deshalb ist es klar, vom Ruhrgebiet als einer Region zu sprechen.

Dem stelle ich die etwas provokative These entgegen: Oberhausen ist anders als jede der übrigen Städte zwischen Moers und Hamm, zwischen Recklinghausen und Hagen! Das Einmalige an Oberhausen ist: Vor dem Einzug von Industrie und Eisenbahn gab es nichts! Kein Dorf, keine Kirche, keine Schule, keinen Marktplatz, keine öffentliche Verwaltung. Oberhausen entstand auf 900 Hektar Lipperheide. Der Sandboden war so bescheiden – Entschuldigung, ertragsarm – dass im Zeitalter der Landwirtschaft, das von der Steinzeit bis zur Erfindung der Dampfmaschine reichte, für Menschen schlicht die Lebensgrundlagen fehlten. Und das war nirgends im Ruhrgebiet so! Duisburg, Essen, Recklinghausen und Dortmund waren Städte, Osterfeld und Sterkrade immerhin Dörfer. An ihre Ränder konnte sich Industrie anlagern. In Oberhausen wurde 1846/47 die Köln-Mindener Eisenbahn – die „A 3“ des 19. Jahrhunderts - von Köln nach Berlin gebaut und sogar ein Bahnhof angelegt. In nur 10 Jahren war der Ring um diesen Bahnhof mit Fabriken geschlossen. Eiligst mussten nun Straßen, Wohngebäude, Schulen und alles weitere her. Die 1862 gegründete Bürgermeisterei Oberhausen hechelte fortan der dynamischen Industrialisierung und Städtebildung hinterher. Und wie dynamisch Oberhausen war! Eine der am schnellsten wachsenden Städte der Welt: Binnen eines halben Jahrhunderts von 1862 bis zum Ersten Weltkrieg explodierte die Bevölkerungszahl fast um das 20-Fache: Aus 5.590 wurden 103.500 EinwohnerInnen.

Es sollte das Zentrum Oberhausens werden – dann versank der Raum im Wasser. Von 1970 bis 1880 erstreckte sich die Bergsenkung „Concordia-See“ vom heutigen Gesundheitsamt bis zum John-Lennon-Platz. Karte von Oberhausen mit der Ausdehnung des Concordia Sees, 1913 © Stadtarchiv Oberhausen

Die Häuser an der heutigen Grillostraße bekamen nasse Füße. Der Concordia-See war bis zu 2,50 Meter tief und 13! Hektar groß. – Erst mit Bau der Kanalisation verschwand er schließlich. Concordia See, um 1875 © Stadtarchiv Oberhausen

Aber trotz dieser schwierigen Umstände, die Oberhausener Kommunalpolitiker und Bürgermeister schafften es, die Lebensbedingungen immer weiter zu verbessern. Das war teuer, kostete Steuergeld, wurde aber von den Industriellen und Kleinunternehmern im Stadtrat eingesehen: Ihre Fabriken und Geschäfte konnten nicht wachsen und verdienen, wenn nicht die Stadt um sie herum geordnet mit wuchs. Vor allem brauchte die Stadt Wohnungen für Arbeitskräfte, Schulen für deren Kinder, aus denen ja wieder Arbeitskräfte werden sollten.

Neben dem Rathaus waren sie Highlights des Backsteinexpressionismus der 1920er Jahre. Die Qualität der Architektur öffentlicher Gebäude gab der Innenstadt großstädtisches Flair!

Was diese Besonderheit Oberhausens gegenüber dem Rest des Ruhrgebietes – und ganz Deutschlands im 19. Jahrhundert – bis heute bewirkte? Gehen wir von Norden nach Süden über den Oberhausener Friedensplatz vom Amtsgericht an der Polizei vorbei zum Europahaus und weiter zum Bert-Brecht-Haus, dann begreifen wir es! Auf dieser Fläche, die heute eine gelungen gestaltete Brücke schlägt vom Geschäftszentrum Marktstraße zum Verkehrs- und Verwaltungszentrum zwischen Bahnhof und Rathaus, stand bis 1903 eine mächtige Fabrik. Auf  200 mal 350 Metern breiteten sich Hochöfen und Werkshallen der Styrumer Eisenindustrie aus. 700 Menschen arbeiteten dort. Dann stellte die Eisenhütte 1901 den Betrieb ein. Über 25 Jahre gestaltete die Stadt beharrlich diesen Raum um und schuf damit erst eine zusammenhängende, großstädtische Innenstadt. Rechteckige Straßen und Plätze, viele Parks prägen Oberhausen dort, wo andernorts ein Straßenring auf den Fundamenten einer ehemaligen Stadtmauer ein verwinkeltes Straßennetz umschließt.

Kommen Sie in unsere Ausstellung „Oberhausen. Aufbruch macht Geschichte. Strukturwandel 1847–2006“, wenn diese wieder öffnet! Schauen Sie selbst anhand alter Karten und neuer Pläne, was Oberhausen ausmacht und wie tiefgreifend es sich veränderte! Hier zeigen wir Ihnen aber schon einmal die eben erzählte Geschichte vom Verschwinden der Styrumer Eisenindustrie: In den äußerst detaillierten Stadtplan von 1921, der einen noch weitgehend unbebauten Friedensplatz zeigt, ist die vorherige Lage der Fabrik in den Ausmaßen von 1857 hineinmontiert. Schon 1872 aber war die Styrumer Eisenindustrie doppelt so lang geworden und erstreckte sich bis zum heutigen Bert-Brecht-Haus am Saporisha-Platz (damals Industriestraße).

Die Kartenmontagen der Bebauung von 1857 in den offiziellen Stadtplänen von 1872 und 1921 zeigen: Erst explodierte die Bebauung und die Größe der Fabriken am Bahnhof. Dann verschwand die Industrie aus dem wertvollen Raum zwischen Altmarkt und Rathaus.

 



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